Medienpolitik Teil 1 – Nehmen wir den ORF auseinander

Dieser Text erschien als Teil 1 von zwei kurzen Essays zur österreichischen Medienpolitik am 8.8.2015 auf nzz.at.
Ein grundlegender Zugang zu meinen medienpolitischen Vorstellungen ist hier nachzulesen:
Demokratie x Journalismus – Grundlagen für eine vielfältige und politisch unabhängige Medienlandschaft im digitalen Wandel. (Niko Alm, Yannick Gotthardt)

Nehmen wir den ORF auseinander

Moderne Medienpolitik ist keine Machtpolitik, sondern hat für einen pluralistischen Markt mit journalistischem Mehrwert für die Demokratie zu sorgen. Es ist Zeit, die marktbeherrschende und -verzerrende Stellung des ORF zu beenden. Das öffentlich-rechtliche Medienhaus soll sich auf seinen Kernauftrag konzentrieren: das Schaffen von öffentlich-rechtlichen Inhalten.
Ist es im Jahr 2015 noch zu vertreten, dass ein Sender, der faktisch aus einer zweckgebundenen Extrasteuer finanziert wird, Fußballübertragungen aus dem Markt kauft, die von Privaten ebenso gut ohne Steuergeld ausgestrahlt werden könnten? Derartige Fragen stellt sich die Medienpolitik nicht. Was wir im 21. Jahrhundert aus demokratiepolitischer oder kultureller Perspektive von unserer Medienlandschaft erwarten dürfen, was der freie Markt leisten kann und wo es der Förderung bedarf, wird nicht diskutiert.
Unter dieser Situation leidet nicht zuletzt der ORF selbst. Einerseits wird zu enormen volkswirtschaftlichen Kosten seine marktverzerrende Stellung geschützt, im Ausgleich wird dem ORF aber die Teilhabe an den digitalen Kanälen der Zukunft erschwert und seine Entwicklung zu einem modernen Medienhaus eingebremst. Der ORF hat genug Geld, aber er hat nicht die strukturelle und politische Freiheit, um die Medienformate der Zukunft zu gestalten. Die privaten Mitbewerber können sich Innovation nur bedingt leisten, weil der ORF den Markt immer noch beherrscht. Eine No-Win-Situation für den Medienkonsumenten. Dieser Zustand ist nicht nur marktfeindlich, sondern im Sinne einer demokratiewürdigen Medienlandschaft dringend zu überwinden.
Das ist die Aufgabe von Medienpolitik. Wie sie sich in Österreich verändern muss, ist vor allem eine Frage nach der Rolle des ORF im österreichischen Medienmarkt.
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Gravitationszentrum Küniglberg

Eine medienpolitische Diskussion unter Aussparung des ORF zu führen, ist in Österreich angesichts seiner dominanten Marktstellung sinnbefreit. Gut zwei Drittel der öffentlichen Gelder, die als Medienförderung bezeichnet werden können, wandern in die Infrastruktur des öffentlich-rechtlichen Medienhauses. Der ORF vereinnahmt ca. 600 Millionen Euro aus Gebühren und zusätzlich noch knapp die Hälfte (Größenordnung 300 Millionen Euro) des Werbevolumens im Rundfunkmarkt. Im Gegenzug für diese privilegierte Position soll er auftragsgemäß jene Inhalte liefern, deren demokratisch erwünschte Produktion privaten Medienhäusern in ausreichendem Ausmaß nicht zugetraut wird. Dieses unterstellte Marktversagen ist die gängige Arbeitshypothese, die allerdings nur schwer überprüft werden kann, solange der ORF den Medienmarkt weiter so exzessiv verzerrt.
Braucht es für die Versorgung der Bevölkerung mit öffentlich-rechtlichen Inhalten gleich ein derart mächtiges Unternehmen oder ginge es auch anders?
Denn neben dieser ökonomischen Schieflage wird mit dem ORF auch Parteipolitik im Medienmarkt strukturell verankert. Über sogenannte Freundeskreise werden die Parlamentsfraktionen im ORF-Stiftungsrat repräsentiert. Dieser wählt alle fünf Jahre einen Generaldirektor, der sich entsprechende Mehrheiten vor der Wahl organisieren muss. Damit sichern sich die Parteien zumindest punktuell Einfluss.

Welches Marktversagen wird mit dem ORF noch ausgeglichen?

Vor mehr als einem halben Jahrhundert war die Infrastruktur zur Produktion und Ausstrahlung audiovisueller Inhalte noch etwas, das gemeinschaftlich finanziert werden musste. Frequenzen waren rar, Produktionen aufwändig, es brauchte Studios und Sendemasten. Wer fernsehen wollte, kaufte einen Fernseher und schaute FS1 (oder 2).
Die Gebühren waren fair, weil die Nutzung ziemlich treffsicher am Gerät festzumachen war. Mitbewerb gab es viele Jahre keinen.
Heute werden die (technische) Produktion und der Vertrieb von Inhalten am freien Markt effizient gelöst. Jeder kann mit wenig Aufwand Radio oder Fernsehen produzieren und seine Inhalte digital verbreiten. Die Aggregation der Inhalte passiert zunehmend technisch bzw. sozial. Hier ist weit und breit kein Marktversagen auszumachen.

Wozu braucht es eine Medienförderung?

Der einzige Punkt, an dem der Markt wie eingangs beschrieben, nicht liefern kann, ist die Schaffung von öffentlich-rechtlichen (journalistischen und kulturellen) Inhalten in ausreichendem Ausmaß. Gehen wir davon aus, dass diese demokratisch unerwünschte Marktinsuffizienz tatsächlich besteht, dann ist es Aufgabe der Medienpolitik, genau diese Unterlieferung zu sanieren. Dazu ist es nicht notwendig, eine Sendeanstalt inklusive Produktions- und Vertriebsapparat zu betreiben; es müsste reichen, die Redaktionen soweit zu finanzieren, dass öffentlich-rechtliche Inhalte produziert werden. Selbstverständlich ist es ebenso wünschenswert, dass diese Inhalte auch mit entsprechender Reichweite vertrieben werden. Aber genau diese Aufgabe kann der Markt wesentlich effizienter erledigen.
Eine moderne Medienförderung konzentriert sich daher auf Public Value und die Produktion journalistischer und kultureller Inhalte.

Was bedeutet das für den ORF?

Der ORF wird im Zuge einer neuen Medienförderung sukzessive an der Wertschöpfungskette vertikal desintegriert und zu einem Anbieter von Public Value umgebaut. Die für die technische Produktion dieser Inhalte notwendigen Ressourcen werden in einem sinnvollen Umfang im Haus behalten und sonst am freien Markt (wie auch jetzt schon) zugekauft, das heißt die Redaktionen des ORF bleiben grosso modo unberührt, und die Technik wird in den freien Markt entlassen.
Die produzierten Inhalte werden über private Medienhäuser vertrieben, die natürlich auch selbst Beiträge produzieren werden, die den Kriterien des Public Value entsprechen und dafür entsprechend gefördert werden. Die Abgabe der Inhalte durch den ORF kann mit vertraglichen Vereinbarungen und/oder in einem Auktionsverfahren geschehen – aber auch andere Modelle, wie die Incentivierung des Vertriebs in Abhängigkeit der Reichweite, sind denkbar. Kaum bis gar nicht nachgefragte Inhalte können von kleineren, privaten Anbietern auch kostenlos bezogen und verbreitet werden. Als ergänzende Vertriebskanäle können eine ORF-TVthek bzw. Online-Angebote weiter bestehen bleiben, um alle Inhalte dauerhaft abrufbar zu halten bzw. solche Inhalte selbst zu produzieren, deren Vertrieb stark an die Produktion gekoppelt ist (insbesondere Social Media und Apps).
Zusammengefasst: Die Aufgabe des ORF ist es nicht mehr, die Reichweite über den Zukauf von Reichweitenbringern (UEFA Champions League, Serien, …) zu erzeugen, sondern private Inhaltserzeuger dort zu ergänzen, wo allgemein unterstellt wird, dass der Markt unterliefert. Der ORF produziert Public Value. Der Vertrieb wird von Privaten erledigt. Öffentlich-rechtliche Inhalte und Kulturproduktionen sind dann nicht mehr nur an einem Ort gebündelt, sondern verstreut und redundant über die ganze Medienlandschaft zu beziehen und erzielen dabei bei gleichen Kosten eine größere Reichweite.

Wie soll das finanziert werden?

Das Modell öffentlich-rechtliche Inhalte über Gebühren zu finanzieren, hat sich als Konsequenz fehlender Treffsicherheit der gerätegebundenen Rundfunkgebühr längst delegitimiert. Die GIS gehört abgeschafft. Die Finanzierung kann, wenn man akzeptiert, dass die Produktion von Public Value eine demokratisch notwendige Aufgabe ist – konsequent durchgedacht – eigentlich nur über das Budget im Wege einer neuen Medienförderung erfolgen.
Das Argument, man sei dann wiederum und erst recht von der Politik abhängig, kann nicht gelten: Wenn sogar in der jetzigen parteipolitisch beeinflussten Struktur, wie behauptet, ein unabhängiges redaktionelles Arbeiten möglich ist, dann wird das mit einer neuen Struktur noch unabhängiger möglich sein. Der parteipolitische Einflusses kann ohnehin durch gar nichts prinzipiell ausgeschlossen, sondern nur zurückgedrängt werden. Der ORF wird durch eine Finanzierung über das Budget nicht mehr oder weniger zu einem staatlichen Medienhaus, als er es schon ist. Daher ist es umso wichtiger, dem ORF nicht die gesamte Wertschöpfungskette zu überlassen und den freien Medienhäusern so viel vom schmalen Markt für Public Value zu überlassen, wie diese beliefern können.
Und ja, der ORF muss dann jedes Jahr über sein Budget verhandeln und bekommt möglicherweise in manchen Jahren auch weniger Geld. Es gibt nämlich keinen Grund, warum der über öffentliche Gelder finanzierte Produzent von Public Value nicht genau so, wie auch andere Ressorts, sein Budget rechtfertigen muss. Wenn Ministerien, die wesentlich grundlegendere Bedürfnisse wie Gesundheit, Pflege und Bildung adressieren, um ihr Budget streiten müssen, dann wird das auch dem ORF zumutbar sein. Sich hier auf das automatische Inkasso, wie es sonst nur die Kammern praktizieren, zurückzuziehen, ist nicht nur unsportlich, sondern auch unsolidarisch.
Der Umbau zu einer neuen Medienpolitik und des ORF ist ein Prozess, der mit einer sinnvollen Übergangsphase schon einige Jahre dauern wird. Aber das Ziel sollte klar sein: Es lautet Förderung von Journalismus und Public Value. Die Zeiten der Finanzierung staatsnaher Konzerne, die Public Value als Nebenprodukt abwerfen, haben sich überlebt und sind vor der globalen Entwicklung auch – selbst wenn man wollte – nicht zu schützen.
Mehr über Symptome und Ursachen lesen Sie demnächst in Teil 2 dieses Essays: Ein Land ohne Medienpolitik

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