Satire und der Blasphemie-Paragraf

aus “Ohne Bekenntnis” (2019) S. 116

Der scharfe Diskurs ist konstituierend für eine funktionierende Demokratie. Er geht der demokratischen Entscheidung voraus. Die Debatte muss frei und verletzend sein dürfen, um im Gefolge alles andere unangreifbar zu lassen – insbesondere körperliche Unversehrtheit und das Leben an sich.

Salman Rushdie gilt nicht zufällig als Musterbeispiel für die Reaktionen auf Blasphemie. Auch für mich war als Teenager der Fall Rushdie die erste Wahrnehmung von religiöser Vergeltung für ein Meinungsdelikt.
Rushdies Buch »Die Satanischen Verse« nimmt keine herausragende Stellung im umfangreichen Reigen blasphemischer Literatur oder Kunst ein. Der Roman war ein arbiträrer Anlass für politisch motivierte Gegenreaktionen, die zum Auslöser in keinem wie auch immer gearteten Verhältnis standen. Physische Gewalt und Mord können nie in einem rationalen Verhältnis zu einem Text oder einer Zeichnung stehen. Der dänische Karikaturist Kurt Westergaard wurde ebenso wie Rushdie zur Zielscheibe des Islam gemacht und muss seither mit Personenschutz leben. Er hatte 2005 für die Tageszeitung »Jyllands-Posten« die berühmten Mohammed-Karikaturen gezeichnet, die erst ein Jahr später als Anlass für fadenscheinige Empörung und Gewaltausbrüche herhalten mussten. »Die Veröffentlichung der Cartoons war vielleicht unsensibel oder feindselig. Aber wenn die Anhänger einer bestimmten Religion nicht mit Witzen, Spott oder unverblümter Kritik umgehen können, dann können sie auch nicht mit dem Leben in einer freiheitlichen, offenen Demokratie umgehen«, schrieb der Soziologe Phil Zuckerman 2008. Die Unfähigkeit, damit umzugehen, äußerte sich in rund hundert Toten, gestürmten Botschaften und verbrannten dänischen Fahnen.
Ähnlich erging es dem star spangled banner, als sich 2012 der islamische Hass am Trailer für einen Film mit dem Titel »Innocence of Muslims« entzündete, der über YouTube der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Bei den folgenden Protesten in den arabischen Ländern wurden rund fünfzig Personen getötet.
Auf die Eruption religiöser Gewalt gegen das demokratische Grundrecht der freien Meinungsäußerung folgen öffentlich geführte Debatten über die Grenzen zwischen Blasphemie, Satire, politischer Korrektheit und leider auch Meinungsfreiheit an sich, die sich immer wieder und wieder gegen den Empörialismus – wie Michael Schmidt-Salomon es treffend bezeichnet – behaupten muss. Dass das Konzept der freien Meinungsäußerung dabei gar nicht verstanden wird, erklärt sich bei jenen, die Akzeptanz für die Besonderheit von religiöser Verletzlichkeit einmahnen oder gar ängstlich auf die Vermeidung jeglicher Provokation pochen, von selbst. Vom Recht auf freie Meinungsäußerung sind ja insbesondere jene Äußerungen erfasst, die die Grenzen der sozialen Etikette und politischen oder religiösen Korrektheit überschreiten. Manche wollen diese Überschreitungsfreiheit daher lieber nur auf künstlerische Ausdrucksformen beschränkt sehen. Das Credo Kurt Tucholskys, »Satire darf alles«, wird als quasi-mathematischer Beweis dafür angeführt, dass die Freiheit der Kunst eine besondere sei und über die Grenzen der normalen Meinungsfreiheit des gesellschaftlich Akzeptablen hinaus agieren dürfe. Dieser diskriminierende Zugang ist populär, aber mehr als problematisch. Satiremagazinen und Cartoonisten soll erlaubt sein, was Nicht-Künstler, darunter auch tollpatschige YouTube-Regisseure, die nicht mehr als Künstler gelten, wenn es nicht opportun ist, zu unterlassen haben?
So funktioniert das nicht. Wenn wir Meinungsfreiheit ernst nehmen, dann gibt es keine selektiven Einschränkungen, sondern einen für alle gültigen Rahmen. Das bedeutet beileibe nicht, dass alles, was sich Satire nennt, auch Satire ist. Das bedeutet auch nicht, dass nicht auch Humor dafür missbraucht werden kann, vorsätzlich beleidigend zu sein. Doch wer unterscheidet angemessene Kritik von unethischem Verhalten? Und ist das mit dem Strafrecht zu regeln? Eine Frage, die sich die organisierte Religion nicht zu stellen braucht. Sie genießt außerordentlichen Schutz. Der österreichische Karikaturist Gerhard Haderer wurde 2011 von einem griechischen Gericht wegen Blasphemie zu sechs Monaten Haft verurteilt. Seidank musste er diese Strafe nie antreten. Sein Büchlein »Das Leben des Jesus« mit Zeichnungen einer literarischen Figur motivierte die griechisch-orthodoxe Kirche zur Anzeige. Doch dasselbe hätte Haderer auch in Deutschland oder Österreich passieren können. Die Paragrafen in den jeweiligen Strafgesetzbüchern sind bekanntlich ähnlich formuliert.
Satirische Auseinandersetzung mit Religion ist geradenach eine notwendige Reaktion auf derartige Paragrafen. Erst durch den besonderen Schutz des Glaubens verlieren Religionen jenen Respekt, der ihnen in größerem Ausmaß zuteilwürde, wäre er nicht mit dem Schutz von Strafrechtsbestimmungen immunisiert. Diese Immunisierung nicht als Anlass für Kritik, sondern im Gegenteil als Begründung für kritische Enthaltsamkeit anzuführen, ist paradox. Kritik nicht zu üben, weil damit möglicherweise Gefühle verletzt werden, führt zur Selbstzensur und politischen Überkorrektheit, die nicht nur den verbalen Widerstand verbietet, sondern oft auch die stillschweigende Duldung missbilligt und affirmativen Respekt durchsetzen will. Auf Religion umgelegt bedeutet diese Forderung, kritische Angriffe nicht nur selbstbeschneidend zu unterlassen, sondern im Gegenteil einen Schritt auf die Religion zuzugehen, um Verständnis zu entwickeln. Der Fehlschluss, der dieser Empfehlung zugrunde liegt, wurzelt in der Verwechslung von interner Religionskritik und der Kritik an den Wirkungen von Religion in Staat und Gesellschaft.
Um die Auswirkungen von Religion auf die Gesellschaft zu sehen, müssen wir über die Glaubenssätze, Rituale und Organisation als Außenstehende nicht Bescheid wissen. Es reichen tatsächlich die Wirkungen, die sich ohne unser Zutun ins Bewusstsein rücken, um zu beurteilen, ob diese persönlichen ethischen Standards genügen oder mit allgemeingültigen Gesetzen kollidieren. Mehr noch: Es muss reichen.
Wir haben alle unser gutes Recht darauf, die aktive Beschäftigung mit Religion ignorieren zu dürfen. »Wer es partout nicht ertragen kann, dass andere Menschen Auffassungen vertreten, die von den eigenen Überzeugungen empfindlich abweichen, wird sich in einer offenen Gesellschaft nicht zurechtfinden können«, vermutet Michael Schmidt-Salomon. Ich gebe ihm recht. Doch die Zahl jener, die sich dergestalt nicht zurechtfinden, ist nicht gering. Menschen, die zu einer demokratischen Streitkultur nicht fähig sind, suchen keinen Konsens, sie verzichten auf das rationale Argument und umgehen es. Sie zielen auf die persönliche Versenkung jener, die ihre Meinung nicht teilen, werten diese ab, um sich selbst aufzuwerten.
Es sind jene, die nicht erkennen, dass sie mit der Vernichtung der Person und nicht des Arguments die Meinungsfreiheit, die sie selbst zu vertreten glauben, untergraben. Es sind jene, die Karl Popper als die »Feinde der offenen Gesellschaft« bezeichnet.

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