Psychologie Pjöngjang

Nordkoreanische Lebensrealitäten über den vom Regime kontrollierten Bereich hinaus vermittelbar zu machen, ist nahezu unmöglich. Der Besuch des Landes als Tourist ist zwar gewünscht und unkompliziert – auch zu filmen, zu fotografieren und mit Menschen dort zu sprechen, ist möglich –, aber der Spielraum zur individuellen Bewegung oder gar Recherche ist ausgesprochen gering. Die damit gewonnenen Eindrücke erlauben wenig Einblick in die Gedanken der Bevölkerung – ein einziges offenes Gespräch in Nordkorea zu führen, wäre zu riskant, geschweige denn viele, die notwendig wären, um ein genauere Vorstellung vom Wesen des Landes zu erhalten. Am ehesten kann durch die Erzählungen jener das Bild des wahren Nordkoreas aufgebaut werden, denen es gelungen ist, das Land als Flüchtende zu verlassen.
Selbst Diplomaten plausibilisieren das erratische Verhalten des offiziellen und inoffiziellen Nordkoreas oft nur in Mutmaßungen. Bei einem Aufenthalt in Pjöngjang 2015 hatte ich die zufällige Gelegenheit mit einem Botschafter zu sprechen, der seine Eindrücke vom Austausch mit der Partei recht offen artikulierte. Um nicht so leicht abgehört werden zu können, wurde das Gespräch schnell ins Freie verlegt und auch jetzt, fünf Jahre später, fühle ich mich unwohl dabei, Details öffentlich zu erzählen oder seine Nationalität zu nennen. Die Vorsicht, die Reisenden mit auf den Weg in die Demokratische Volksrepublik gegeben wird, wirkt nachhaltig.

 

Die Achse der Kunst: Nordkorea x Norwegen

Der eigentliche Anlass meines Aufenthalts in Pjöngjang damals waren aber keine politischen Gespräche, sondern das erste Konzert einer (im allerweitesten Sinn) Rock-, nämlich der slowenischen Band Laibach in Nordkorea, das vom norwegischen Extremdiplomaten Morten Traavik in mühevoller Arbeit organisiert wurde. Einen ausführlichen Bericht darüber gab es im Standard unmittelbar danach schon zu lesen. 2016, ein Jahr später, veröffentlichte er den Film „Liberation Day“ als Dokumentation dieses außergewöhnlichen Kultur-Ereignisses.
Mehr als zwanzig Mal reiste der Norweger nach Nordkorea, um völlig neue, unkonventionelle kulturelle Verbindungen und Möglichkeiten zum Austausch zu schaffen. In der Zeit hatte er nicht nur viel vom unkontrollierten Nordkorea gesehen, sondern auch persönliche Beziehungen und Freundschaften aufgebaut, die auf einmal jäh abgebrochen wurden. Sein Bericht in Buchform „Liebesgrüße aus Nordkorea“ (erschienen bei Suhrkamp) könnte auch als langer Brief an seinen Freund, den Staatsdiener „Herr Win“ gelesen werden, der die langjährige diplomatische Freundschaft mit einer Drohung beendete und seinem Gegenüber damit jedes Gefühl der Sicherheit plötzlich entzogen hatte.

 

 
Traavik nützt neben seinen Brieffragmenten an Herrn Win mehrere Ebenen der Erzählung, um die Vielschichtigkeit nordkoreanischer Realitäten verständlich zu machen. Bilder vom Leben in Nordkorea gehören ebenso dazu, wie Rezepte für die abgebildete Hundesuppe und Kimchi für 40 Personen. Keine Sorge, es handelt sich um kein folkloristisches Kochbuch, es ist vielmehr Bonusmaterial, das den leichtfüßigen Formulierungen und dem grundlegenden Spiritus des Autors entspricht, der seine Erlebnisse aus erster Hand mit der Bürokratie eines Staates, in dem jeder jeden überwacht, berichtet. Den wesentlichen Teil des Buches macht eine launige Aufrollung der nordkoreanischen Geschichte aus, die auch mit der offiziellen Zeitrechnung der staatlichen Chuch’e Ideologie korrespondiert. Wir leben heute im Jahr „Chuch’e 109“. Die Zählung beginnt mit dem Geburtsjahr (1912) Kim Il-sungs, des ersten der drei bislang regierenden Kims.
Die Kenntnis der polithistorischen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und der Psychologie seiner geliebten Führer sind Grundvoraussetzung, um das Gebaren der Nordkoreaner – egal auf welcher Ebene – nachvollziehen zu können.
Traavik verarbeitet dazu auch Berichte anderer Landsleute (Schweden ist hier mitgemeint), die in vergangenen Jahrzehnten schon mit Nordkorea Verbindungen pflegten.
  

Themenpark im Götterstaat

Vieles wirkt für die Medienkonsumenten des Weltgeschehens oberflächlich unlogisch oder widersprüchlich, wird aber bei genauerem Hinsehen mit mehr Information doch plausibel – naturgemäß ohne dabei weniger bizarr oder inhuman zu sein, nur eben schlüssiger. Das Land versteckt sich hinter eine Fassade aus Megalomanie, aber es ist trotzdem kein Schauspiel, sondern eben eine Seite der nordkoreanischen Wirklichkeit. Die 16 U-Bahnstationen und die Hauptstadt darüber werden nicht mit Komparsen bespielt, auch wenn die Monumente Pjöngjangs den Touristen ein prächtiges Bild vermitteln sollen und Massenchoreographie und Drill die liebsten Hobbys der Kollektivismus sind, gibt es unmittelbar daneben so etwas wie mit dem Rest der Welt vergleichbares normales Leben, in das es freilich nur wenigen Privilegierten wie Traavik gelingt, einzutauchen. Es ist dieser Teil der angstfreien Normalität, der weitgehend ungekannt ist.
Das ist keine Verharmlosung: Nordkorea bleibt trotz aller Schrulligkeiten lebensgefährlich. Und wie bei jeder Theokratie – und nichts anderes ist das Land der Chuch’e-Religion mit seinen Kasten – sind die schlimmsten Verbrechen jene, die sich gegen die gottgleichen Führer (tot und lebendig) und ihren Apparat richten: Irrglaube und Blasphemie. Eine Bibel im Hotelzimmer zu „vergessen“ kann für Reisende daher sehr böse enden. Morten Traavik erzählt in diesem Kontext auch die Geschichte des amerikanischen Studenten Otto Warmbier, der in Nordkorea zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde und nach seiner Überstellung in die USA 2017 verstarb, aus einem Blickwinkel, der die vielen Fragezeichen dieses tragisch-absurden Schicksals nach dem Ende der bereits bekannten Erzählung reduziert.
Was sich mit großer Sicherheit sagen lässt: Wir haben ein sehr unvollständiges Bild des nördlichen Koreas, das in dieser Bezeichnung signalisiert, dass die Teilung keineswegs endgültig sein muss; Morten Traavik macht das Land ein großes Stück verständlicher.

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