Politische Verantwortung mit COVID-19
Ich bringe ausnahmsweise einen Beitrag, der über den Addendum-Newsletter ausgeschickt wurde, auch auf meinem persönlichen Blog – und das aus zwei Gründen: Erstens reflektiert der für einen Newsletter unüblich lange Text vor allem meine persönliche Einschätzung der Lage, aber zweitens muss ich diesem Text einen Disclaimer zur Verwendung der Gaußschen Glockenkurve voranstellen, den ich in einen bereits ausgesendeten Newsletter als Update nicht einfügen hätte können.
Update: Nach dem Versand des Textes erreichten mich sogleich etliche Rückmeldungen, dass es sich bei der zeitlichen Verteilung der bekannten Infektionen nicht um eine Gaußsche Verteilung handeln würde. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung der Kurve für meinen Beitrag über politische Verantwortung ziemlich unerheblich ist, ärgere ich mich natürlich über mich selbst, dass in der Einleitung nicht sauberer dargestellt zu haben. Mir ist klar, dass es sich bei der Zahl der Infizierten über den Zeitverlauf nicht um eine Normalverteilung handelt. Das wäre ja absurd, weil die Kurve ja nicht einmal die Zahl der Infizierten angibt, sondern nur der getesteten Infizierten. Hier gibt es Grund zur Annahme, dass die tatsächliche Penetration der Bevölkerung mit dem Virus zum jeweils angegebenen Zeitpunkt wesentlich höher ist. Siehe dazu diesen Beitrag in Science vom 16.März: “Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel coronavirus (SARS-CoV2)”
Warum verwende ich dann wider besseres Wissen Begriffe wie Normalverteilung und Gaußsche Glocke? Ganz einfach, weil ich mich bei der Verwendung der Kurve als politisches Werkzeug auf den Phänotyp in der Infografik bezogen habe. Uns allen wird in verschiedenen (aber nicht in allen) Illustrationen von offizieller Seite oder von Medien eine hübsch symmetrische Glocke präsentiert, die zur Corona-Ikone wurde, wie es in einem Artikel in der aktuellen Addendum-Zeitung treffend heißt. Die folgende Abbildung ist beispielsweise aus dem Spiegel.
Soviel zur der Kurve, mit der gerade Grundrechte außer Kraft gesetzt werden. Ein Vorgang, den wir vermutlich erst im Rückblick abschließend werten werden können. Und ja, ich bin mir übrigens dessen bewusst, dass es einfach ist, zu kritisieren ohne Lösungen anzubieten. Aber politische Verantwortung zu tragen, heißt auch, für unter bei unzureichendem Informationsstand getroffene Entscheidungen einzustehen, die sich im Nachhinein unverschuldet als falsch herausstellen.
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Politische Verantwortung mit COVID-19
Vermutlich seit „The Bell Curve“ von Richard Herrnstein und Charles Murray hat es keine Normalverteilung mehr zu derart graphischer Öffentlichkeit geschafft wie die Entwicklung der Infektionen mit SARS-CoV-2. Jede Erörterung politischer Verantwortung für die gegenwärtige Katastrophe für Gesundheit, Wirtschaft und Demokratie muss sich an diesem Schaubild, das nicht weniger als ein Werkzeug für politisches Handeln ist, orientieren.
Kurvendiskussion
Im Zentrum des politischen Krisenmanagements steht also die bekannte Gaußsche Glockenkurve, die den zahlenmäßigen Verlauf der COVID-19-Erkrankungen abbildet. Wie es solche Normalverteilungen an sich haben, gibt es einen Extremwert, der im gegenständlichen Fall den Höhepunkt der Krankenzahl widerspiegelt.
Das kollektive Ziel in der Eindämmung der Pandemie ist es, diesen Extremwert unterhalb der Kapazitätsgrenze für die medizinische Versorgung zu halten. Das ist soweit allen bekannt.
Wichtig zu wissen ist, dass die Zahl der Infektionen und Erkrankungen – egal wie sehr die Kurve über den Zeitverlauf gestaucht wird – im Wesentlichen eine fixe Größe ist. Man geht davon aus, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung (60 bis 70 Prozent) jedenfalls infizieren und auch krank werden wird, nur eben früher oder später. Wie viele Menschen dann tatsächlich ausreichend gut versorgt werden und nicht an COVID-19 (oder als Folge einer anderen, begleitenden Krankheit oder anderer Engpässe im Rettungswesen) sterben müssen, hängt dann vom Versorgungsgrad ab. Es ist wichtig, dass das Coronavirus nicht dazu führt, dass eine Zweiklassenmedizin entsteht und dass COVID-19-Patienten gegenüber ähnlich kritischen Hospitalisierungen bevorzugt werden.
Zwei Variablen
Betrachtet man diese Kurve als Werkzeug, gibt es für gesellschaftliches und damit politisches Handeln zwei Variablen. Die erste Stellschraube ist die Reduktion der physischen Nähe bei Sozialkontakten. Dass die Infektionsgefahr durch die kollektive Einsiedelei abnimmt, ist ein No-Brainer. Dass man trotz #stayathome gefahrlos alleine im Wald laufen gehen kann und zu dritt in gemeinsamer Quarantäne Bier trinken kann und darf, verstehen trotzdem nicht alle, aber das ist zunächst einmal nicht Thema hier. Durch eine gesamtgesellschaftliche Übung gelingt es uns gerade jetzt, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Politisch wird diesem Verhalten mit Empfehlungen, aber auch mit staatlicher Gewalt nachgeholfen, und damit gelingt es, die Gaußsche Glocke wahrscheinlich ordentlich zu plätten. Neben der Schonung der medizinischen Kapazität wird dadurch auch Zeit gewonnen, Impfstoffe und Therapien zu entwickeln, die es ermöglichen könnten, die Glocke überhaupt zu kupieren. Aber das ist keine zwingende Folge.
Neben der Vereinzelung potenzieller Infektionsherde gibt es aber auch eine zweite große Stellschraube, die weniger eine gesellschaftliche Übung als vielmehr politische Voraussicht erfordert hätte: nämlich die Kapazitätsgrenze für eine ausreichend gute Versorgung nach oben zu heben. Wenn ich als Gedankenexperiment diese im Schema horizontale Linie so weit anheben könnte, dass die Glockenkurve sogar bei ungehinderter Ausbreitung unter dieser Belastungsgrenze des Gesundheitssystems Platz hätte, dann wäre die Verlangsamung der Epidemie vielleicht sogar ein Fehler, weil jeder Tag Verzögerung in anderen Dimensionen Schäden anrichtet: steigende Arbeitslosigkeit, immer weitere Aushöhlung der Grundrechte, Überwachung, Blockade des Bildungssystems und vieles mehr. Die Unbekannte in diesem System ist die Dauer für die Marktreife eines Vakzins und anderer medizinischer Gegenmaßahmen.
Naturgemäß wird diese ausreichend gute medizinische Versorgung parallel zu grundrechtlichen Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit auch ausgebaut – aber erst jetzt, also Ende März, in dem spitalsähnliche Zustände in Messehallen geschaffen und Geräte aus China importiert werden. Es ist daher zunächst einmal unverständlich, warum die Belastungsgrenze in dem ikonischen Diagramm streng parallel zur Abszisse verläuft und nicht zumindest leicht ansteigt. Aber vielleicht ist die Vermittlung, dass es sich hier um eine Konstante handelt, auch erwünscht. Fake Science sozusagen.
Jedenfalls muss an dieser Stelle die Frage gestellt werden, warum der Ausbau der Kapazitäten nicht schon früher, im Jänner oder zumindest im Februar passiert ist.
Gegenwartsbewältigung
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die meisten Regierungen – die österreichische ist mitgemeint – die Situation im Jänner, als eine potenzielle Pandemie zumindest absehbar war, völlig falsch eingeschätzt haben. Während die WHO bereits seit 21. Jänner täglich Situation Reports zu „Coronavirus disease 2019 (COVID-19)“ publiziert hatte, hält Gesundheitsminister Anschober Ende Jänner die Behörden noch für „gut vorbereitet“ und im Februar die traditionelle Influenza für ein größeres Problem. Abgesehen von einer Anzeigepflicht wurden aber weder echte präventive Maßnahmen gesetzt noch Vorbereitungen für eine spätere schnelle Ausbreitung getroffen. Die Kapazitätsgrenze – als die wesentliche Markierung für den individuellen und kollektiven Freiheitsgrad – wurde jedenfalls nicht nach oben gesetzt. Und auch die Bevölkerung wurde weder über die potenzielle Gefahr informiert, vielleicht auch um Unruhe zu vermeiden, noch wurden Vorkehrungen getroffen, um im Krisenfall fokussiert kommunizieren zu können. Damit ist auch klar, dass Unruhe nicht strategisch vermieden wurde – sonst wäre die Regierung ja vorbereitet gewesen – sondern lediglich ein Kollateralnutzen aus dem Versäumnis war. Man wartete einfach ab, bis die Brücke den Fluss erreichen würde, an dessen Ufer man derweil Platz genommen hatte.
Das Primat des Handelns
Mit dem tatsächlichen Ausbruch der Krise blühte die Regierung dann auf, und die ersten Schritte zur Bewältigung der Gegenwart ohne die mühsame Vorausplanung konnten gesetzt werden. (Jetzt könnte man sarkastisch meinen, dass das immerhin eine Verbesserung zur üblichen politischen Vergangenheitsbewältigung war und es vermessen wäre, Antizipation überhaupt einzufordern, aber hier ist kein Platz für Sarkasmus.) Die Regierung konzentrierte sich in ihren ersten Maßnahmen zunächst darauf, die Gesellschaft mit leichten Einschränkungen zu stimulieren, um kurz darauf ordentlich grundrechtlich einzugreifen. Ob es jemals die Chance auf ausreichende freiwillige Selbstbeschränkung gegeben hätte, werden wir nie erfahren. Die Absenkung des Extremwerts ist ja keine Leistung der Politik, sondern der teilnehmenden Bevölkerung. Aber zu erklären, warum die Versammlungsfreiheit – auch genau in diesem Ausmaß (100 bzw. 500, später dann fünf Personen) – beschnitten wurde, war schnell zu aufwendig. Stattdessen perpetuierte Innenminister Nehammer, dass bei Nichtbefolgen der Vorschriften zur persönlichen Distanzierung finanzielle Strafen – für manche in existenzbedrohlichem Ausmaß – fällig werden können.
Autoritäre Feststellung
Die Freude an der neu erweiterten Amtsbefugnis war schnell erkennbar. Schon bei der ersten Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Veranstaltungsverbote wandte der Bundeskanzler die neuartige Rhetorik der autoritären Feststellung an: „Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen werden abgesagt.“ Aufmerksame Bürger lässt so eine Aussage ratlos zurück. „Wer sagt hier ab? Der Veranstalter? Der Bundeskanzler selbst?“ So genau ließ sich das unmittelbar nach der Pressekonferenz nicht feststellen, die gesetzliche Grundlage fehlte auch noch, aber das hinderte Medien nicht, Kurz’ paternalistischen Duktus zu übernehmen. Die Freiwilligkeit war zu diesem Zeitraum längst ausgebremst. Sie war auch sprachlich gelöscht, und es wird vermutlich noch länger dauern, bis die Gesellschaft aus dem suggerierten Konsens zur individuellen Selbstbestimmung zurückfindet. Anekdotisch ergänzt: Das tageszeitungsähnliche Medium Heuteetwa titelt in der Ausgabe vom 25.3.2020 „Alle Österreicher werden getestet“. Ob sie damit einverstanden sind oder nicht, wird als Möglichkeit gar nicht mehr eingeräumt. „Jetzt macht einfach jeder mit.“ (Neu für: Jetzt muss jeder mitmachen.“)
Politische Verantwortung
Der Respekt vor dem Coranavirus ist sehr groß, de facto flächendeckend, aber auch die politischen Maßnahmen werden akzeptiert. Schwarz-Grün ist derzeit ein beliebter Krisenverwalter. Aber um politische Verantwortung später richtig einordnen zu können, muss auch der Zeitraum im Vorfeld des aktiven Katastrophenmanagements eingewogen werden. Die Fragen zur späteren Beurteilung dürfen schon jetzt gestellt werden: Was war der Regierung im Jänner schon bekannt? War es Strategie, das Problem herunterzuspielen? Selbst wenn der Minister überzeugt war, das Coronavirus sei nicht gefährlich, selbst wenn sich das Coronavirus als weniger gefährlich herausstellen sollte, sehen wir uns einer Situation grundrechtlicher Einschränkungen gegenüber. Warum wurden die Kommunikation und die Maßnahmen nicht auf diese Eventualität ausgelegt? Warum wurden im Februar in den Ministerien keine Kommunikationsexperten zu Rate gezogen? Warum gibt es noch immer keine ordentliche behördliche Website als Informationshub? Warum wurden im Februar keine Maßnahmen getroffen, um die Belastungsgrenze des Gesundheitssystems nach oben zu schieben? Warum wurde nicht seit Wochen ohnehin lang haltbares Desinfektionsmittel produziert? Waren die grundrechtlichen Einschränkungen angemessen? Warum werden diese Gesetze einstimmig beschlossen? Usw. usf. Vieles davon wird man erst in den kommenden Monaten beantworten können.
Die Schuldfrage ist von politischer Verantwortung kategorisch entkoppelt. Naturgemäß versuchen die Regierenden jetzt das Beste aus der Situation zu machen, aber auch für sich herauszuholen. Die Gefahr, dass sich der aufkeimende autoritäre Gusto zum Heißhunger wandelt, ist gering. Es wird auch in Österreich (inklusive Tirol) wieder gewählt werden. Aber bis dahin muss die politische Verantwortung der jetzt Regierenden geklärt werden.
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[…] Politische Verantwortung mit COVID-19 […]
[…] Epidemiegesetzen keinen (ernstzunehmenden) Maßnahmenplan gegeben hat, ist auch eine Frage der politischen Verantwortung, die zu klären sein wird. Was an Žižeks Frage spannend – wahlweise entlarvend – ist, ist […]