aus “Ohne Bekenntnis” S. 107ff

 

Religiöse Korrektheit

Der Begriff der Religionsfreiheit hat sich im Lauf der Jahrhunderte konzeptuell verschoben. In ihren ursprünglichen Formen war Religionsfreiheit ein persönliches Schutzrecht, als Unterkategorie der Glaubens- und Gewissensfreiheit diente sie dazu, die persönliche Weltanschauung frei wählen und als Teil der eigenen Identität ohne Angst vor Strafe auch veröffentlichen zu dürfen. Daher ist Religionsfreiheit immer auch Meinungsfreiheit, die erlaubt, die gedachte Überzeugung auch gefahrlos zu äußern, wenn sie nicht als in der Praxis nutzlose, individuelle Freiheit in der Privatheit verkümmern soll. Spinoza hat diesen Zusammenhang verdeutlicht und einen grundsätzlichen Einwand gegen Gesetze zu Meinungsdelikten für »spekulative« – also religiöse – Fragen formuliert: »Jene Aufstände aber, die unter dem Schein der Religion erregt werden, entspringen nur daraus, dass man über spekulative Fragen Gesetze erlässt, und dass bloße Meinungen wie Verbrechen für strafbar erklärt und verfolgt werden.«117

Während sich Religionsfreiheit noch immer gegen den Restwiderstand von Staaten und Kirche durchsetzen muss, hat sich der Begriff schleichend gedreht, von einer inklusiven Freiheit, die allen als Schutz des Individuums gleichermaßen zustehen soll, zu einem exklusiven Katalog von Freiheiten, die als Sonderrechte ausschließend wirken. Darunter fällt auch die besondere Schutzwürdigkeit religiöser Gefühle und Glaubenslehren, die gegen Herabwürdigung, aber auch Kritik immunisiert werden; nicht nur über eine neue religiöse Korrektheit in der Gesellschaft, sondern auch über nach wie vor bestehende Blasphemie-Paragrafen im deutschen und im österreichischen Strafgesetzbuch. 350 Jahre nach dem Befund Spinozas ist die Meinungsfreiheit in diesem Punkt immer noch eingeschränkt.

Diese neue, exklusive Religionsfreiheit dient heute der organisierten Religion über die Unantastbarkeit ihres Glaubens dazu, im Kollektiv gesetzliche Privilegien zu akkumulieren. Sie wurde zu einer undurchdringlichen Schutzhülle für religiöse Praktiken, auch wenn diese mit ethischen Grundhaltungen und auch Gesetzen nicht mehr kompatibel sind. Die Religionsfreiheit wurde damit zu einem Instrument der Diskriminierung nach Weltanschauung und kehrte sich gegen ihre ursprüngliche Intention.

Der Staat arbeitet religiöse Problemzonen nur zaghaft auf. Mit dem Verweis auf Religionsfreiheit und dem Recht, religionsinterne Angelegenheiten selbst zu regeln, wird fast jede Kritik neutralisiert. Dass Gesetze nicht allgemeingültig sind und Ausnahmen daraus mit Religionsfreiheit begründet werden, um sie im Umkehrschluss damit zu legitimieren, ist ein Zirkelschluss.

Es ist dieses vorgebliche Bedürfnis eines besonderen Schutzes, das die neue exklusive Religionsfreiheit mit der politischen Überkorrektheit eint. Die Vorsilbe »über« soll hier verdeutlichen, dass es sich nicht um politische Korrektheit im Sinn von Anstand und respektvollem Umgang handelt – dagegen ist nichts einzuwenden –, sondern um eine überschießende Variante, die Duldung mit Affirmation verwechselt. Statt notwendiger Kritik in einer Gesellschaft des Konflikts, die Differenzen in kulturellen und damit auch religiösen Werthaltungen zivilisiert und im gewaltfreien Diskurs austrägt, wird die Gesellschaft geteilt in Opfer und Täter, in Mehrheit und Minderheit. Unterschiede in kulturellen Werthaltungen – und Religion ist nichts anderes als Kultur – werden politisch überkorrekt nicht nur toleriert, sondern aus der Kritik ausgenommen und mit affirmativem Respekt auch noch besonders herausgehoben.

Für eine tolerante Praxis muss eine Gruppe die Sitten und Gebräuche einer anderen Gruppe aushalten, auch wenn sie diese für falsch oder unerwünscht hält. Es reicht nicht, dieser Praxis indifferent gegenüberzustehen. Das wäre keine Toleranz, sondern eben Indifferenz. Um zu tolerieren, muss die dominante Gruppe aus »moralischen und epistemischen« Gründen der tolerierten Gruppe ermöglichen, mit ihrer Praxis fortzufahren. Erst dann könne man, so der amerikanische Rechtsphilosoph Brian Leiter, von einem Zu- stand prinzipieller Toleranz sprechen.118

Dieser Toleranzbegriff bezieht sich zunächst einmal nur auf zwischenmenschliche und gesellschaftliche Toleranz und sagt nichts über das Verhältnis des Staates zur Religion und über die Anwendung von Religionsfreiheit aus. Heute wird gern von falsch verstandener Toleranz gesprochen. Auch wenn der Begriff zu einer Phrase degeneriert ist, die mir persönlich zuwider ist, weil sie populistisch überstrapaziert wird, fasst sie ein grundsätzliches Problem der kulturellen und religiösen Korrektheit zusammen. An die Stelle eines zähneknirschenden Aushaltens rückt eine stillschweigende Akzeptanz eines Verhaltens oder einer Haltung, die diskursfrei gestellt wird, um nur ja niemanden in seinen Gefühlen zu verletzen oder über zu weit gehende Freiheiten anderer zu richten.

Respekt kulturrelativistisch kritiklos und damit vorschnell an die erste Stelle zu setzen, unterdrückt nicht nur die offene Diskussion, sondern eröffnet auch einer Identitätspolitik den Weg, über die legitimen Ansprüche einer Gleichbehandlung hinaus Sonderrechte einzufordern und abzusichern. Niemand beherrscht dieses Spezialgebiet der politischen Überkorrektheit besser als die Religion, die mit der Neuinterpretation der Religionsfreiheit als exklusive Religionsfreiheit Republik und Gesellschaft vor ihren Karren spannt und Politik instrumentalisiert. Religiöse Korrektheit ist eine besonders gefährliche und aggressive Unterkategorie der politischen Korrektheit. Laut Strenger stellt sie »eine groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips dar. Dieses zielte darauf ab, das Individuum vor staatlichen und kirchlichen Eingriffen in ihre Gewissens- oder Religionsfreiheit zu schützen; als Generalabsolution für alle religiö- sen, weltanschaulichen und kulturellen Praktiken war dieses Prinzip nie gedacht.«119

Normierende Religionsfreiheit

Zu einer Zeit, in der es neben einer Religion nicht keine Religion gab, führte Religionsfreiheit zunächst zur Toleranz abweichenden Glaubens. Ungläubigkeit war in diesem Konzept von Religionsfreiheit auch ganz wörtlich nicht vorgesehen. Um jede Form der Weltanschauung zu berücksichtigen, sprechen wir daher kategorisch umspannend von Glaubens- und Gewissensfreiheit. Religionsfreiheit führt zu einer semantischen Unterscheidung zwischen religiöser und nicht-religiöser Weltanschauung und wirkt normierend. Ein Umstand, der auch politisch genützt wird und letztendlich dazu führt, dass unter dem Titel der Religionsfreiheit exklusive Ausnah- men aus allgemeingültigen Gesetzen geschaffen werden.

Wenn Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes festlegt: »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich«120, dann bedeutet diese Freiheit und prinzipielle Toleranz jeglicher Variation des eigenen Glaubens und der eigenen Ideologie noch nicht, dass der Staat auch wirklich einen indifferentialistischen Standpunkt gegenüber Weltanschauungen einnimmt. Horst Dreier bezeichnet diese staatliche Freiheitsgarantie als radikal individuelle Rechts- position, »die ohne jede Verpflichtung auf den Staat gewährleistet und auch bei inhaltlicher Fundamentalopposition ihm gegenüber ohne Abstriche garantiert wird«121. Die Gewährung dieser Freiheit bedeutet aber nicht zugleich auch staatliche Neutralität in Bezug auf die Inhalte dieser Weltanschauungen. Es ist ein individuelles Recht, das vorerst einmal ohne praktische Umsetzungskomponente gilt. Eine Haltung, die an sich staatsfeindlich ist, kann als individuelle Freiheit einer Weltanschauung bestehen, solange sie nicht in die Tat oder auch nur öffentliche Kommunikation umgesetzt wird. Dieses Konzept der prinzipiellen Toleranz verfolgt auch keinen nutzen- orientierten, utilitaristischen Zugang. Weder der individuelle Träger dieser Freiheit noch der organisierte Zusammenschluss von Individuen mit gleicher Überzeugung ist als Kollektiv zu irgendeiner Leistung verpflichtet. Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit gelten bedingungslos. Religionsfreiheit in ihrer ursprünglichen Form gilt daher auch bedingungslos. In der Praxis wird das freilich anders gelebt. In der Anwendung der neuen Konzeption der Religionsfreiheit zur exklusiven Übervorteilung des eigenen Kollektivs setzt der Druck zur Rechtfertigung von Privilegien ein. Das kooperative Modell ist ein Bartergeschäft zwischen Republik und Religion, das keinen definierten, sondern vagen, unausgesprochenen Regeln folgt: Die Religionen bringen Leistungen ein, der Staat gesteht ihnen Privilegien zu. Diese Exklusivität kostet. Die Kurzformel des religiösen Entgelts ist hinlänglich bekannt: »Die Kirche tut ja so viel Gutes.«