zurück: Teil 4 – Religion im Staat – Laizität


 
II          Lassen sich Sonderrechte für Religion auch im sonst laizistischen Staat begründen?
Diese Frage stellt sich unabhängig von der Stellung des Staates zur Religion, wie sie in Abschnitt I nach prinzipiellen Kriterien der Gleichbehandlung abgeführt wurde.
Es ist ja trotzdem denkbar, dass eine bestimmte Religionen oder religiöse Weltanschauung an sich, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, durch ihre individuelle oder gesellschaftliche Wirkung, einen objektiven Grund für eine besondere Behandlung bieten kann. Diese Argumentation verläuft entlang der Hypothese, dass Religion an sich gut für die Gesellschaft sei. Daniel Dennet nennt dieses Muster „Belief in Belief“.[1]
Nota bene: Ausnahmslos alle Systeme, in denen Religion als gesellschaftliches Phänomen Privilegien nützen darf, fußen auf Geschichte und Traditionen dieses Zustandes.
Niemals hat ein Staat die Abwägung im oben beschriebenen Sinn angestellt, um zu dem Schluss zu kommen, dass Religion, Religionsgemeinschaften oder Gläubigen spezielle Rechte eingeräumt werden müssen. Diese Fragestellung ist also überhaupt nur in einem System sinnvoll, das prinzipiell religiös-weltanschauliche Neutralität verwirklicht hat oder verwirklichen will.
Erst in der Verteidigung eines durch Sonderrechte und Diskriminierungen ausgebauten Systems werden mitunter Argumente angeführt, die in diese Richtung gehen. Laizität ist aber prinzipiell die einzige Variante im Verhältnis von Staat zu Religion und Weltanschauung, in deren Rahmen es keine Sonderrechte geben kann.
Sie definiert sich schließlich dadurch.
Wenn es also eine besondere Behandlung religiöser Weltanschauungen gibt, muss diese auch begründbar sein. Und zwar nach den basalen wissenschaftlichen Kriterien der Logik und Empirie.
Gewissensgründe
Natürlich können Menschen auch Gewissensgründe geltend machen, warum ein bestimmtes Verhalten als gesetzliche Sonderregelung toleriert werden soll. Und dabei geht es eben nicht um Glauben, der durch Gedanken und Gewissensfreiheit nicht beschränkt sein kann, sondern um die praktische Anwendung.[2] Eine Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen, kann einfach damit begründet werden, es eben einfach so zu wollen. Wie der Mensch das für sich selbst rationalisiert oder warum er es einfach glaubt, kann wissenschaftlich oder religiös, muss aber auch gar nicht begründet sein. Diese Verhaltensweise kann individuell einzigartig sein oder von einer Gruppe gelebt werden. Ausschlaggebend ist die Überzeugung, dass dieses Verhalten richtig ist und dementsprechend auch nicht rechtlich eingeschränkt werden darf.
Nehmen wir als Beispiel religiöse Speisegesetze. Juden (koscher) und Muslime (halal), die ihre Speisevorschriften befolgen, essen aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch. Dieses Verhalten kann Rechtsfolgen nach sich ziehen, so dass zum Beispiel beim österreichischen Bundesheer Alternativen[3] angeboten werden müssen. Dieser Rechtsanspruch steht Vegetariern nicht zu. Auch Vegetarier essen – mitunter aus Gewissensgründen – kein Schweinefleisch. Natürlich gibt es auch Menschen, denen Schweinfleisch einfach nicht schmeckt. Daraus einen Rechtsanspruch abzuleiten, hieße dann aber einfach jede persönliche Speisevorliebe rechtlich abzubilden, was praktisch undurchführbar ist.
Bei diesem Beispiel geht es nicht darum, dass gewisse Verhaltensweisen nicht mehr toleriert oder berücksichtigt werden sollen. Speisevorschriften lassen sich in der Praxis noch vergleichsweise einfach regeln und es ist eine einfache Frage des gedeihlichen Zusammenlebens, hier die eine oder andere Ausnahme anzuwenden.
Der springende Punkt hier ist: In beiden Fällen wird aus Gewissensgründen eine bestimmte, gleichartige Handlung gesetzt, aber nur in dem einem Fall, der religiös begründet ist, führt sie zu einer Rechtsfolge.
Selbst wenn es grundsätzlich zulässig ist, aus Gewissensgründen Ausnahmen zu machen, könnte als Voraussetzung für diese Ausnahmen eine gewisse Verhältnismäßigkeit, wie etwa eine bestimmte Fallzahl, anwendbar sein. Doch gerade die Fallzahl ist für religiöse Ausnahmen kein Kriterium. Hier reicht die Religion tatsächlich als Begründung. Um das obige einfache Beispiel noch etwas anschaulicher zu machen: Schweinefleisch an sich ist ein objektives Kriterium. Schweinefleisch zeichnet sich dadurch aus, dass es Schweinefleisch ist. Bei übernatürlichen Reinheitsgeboten wie halal oder koscher gibt es keine objektivierbaren Kriterien und trotzdem erfolgt hier aus Gewissensgründen eine rechtliche Rücksichtnahme. Warum ziehen religiöse Gewissengründe Rechtsnachfolgen nach sich, andere Gewissensgründe aber nicht?
Doch auch Rechte, die sich aus religiösen Gewissengründen ergeben und in praktisches Handeln münden, müssen sich Grenzen stellen, wenn sie mit anderen Gesetzen kollidieren. Bei religiöser Beschneidung oder betäubungslosem Schächten sind in den letzten Jahren immer wieder öffentlich Debatten geführt worden, ob diese traditionellen, religiösen Bräuche mit gegenwärtigen (westlichen) Rechtssystemen kompatibel sind.
 


[1] Daniel Dennet erörtert in „Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon“ (Penguin Group, 2006) diesen Ansatz in Buchlänge.
[2] Vgl. Leiter S. 20
[3] Auch eine Entbindung von der Rasierpflicht ist möglich.
 


weiter: Teil 6 – Was unterscheidet Religion von anderen kulturellen Ausprägungen?


 
Inhalt
Teil 1 – Laizität – Der agnostische Staat
Abschnitt I: Religion im Staat

Teil 2 – Religion im Staat – Staatsreligion

Teil 3 – Religion im Staat – Synkretistisches Staatsreligionenmodell

Teil 4 – Religion im Staat – Laizität

Abschnitt II: Lassen sich Sonderrechte für Religion auch im sonst laizistischen Staat begründen?

Teil 5 – Sonderrechte für Religion

Teil 6 – Was unterscheidet Religion von anderen kulturellen Ausprägungen?

Teil 7 – Gesellschaftliche Wirkung von Religion

Teil 8 – Wie soll eine moderne Demokratie das Verhältnis zu Religion und Weltanschauung ausgestalten?