Twitter ohne bezahlte Politik

Twitter ist der lebende Beweis dafür, dass jeder sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen kann. Alles kann gesagt werden. Alles wird gesagt. Es gibt kaum einen böseren Ort öffentlicher Debatte im Verhältnis zu seiner Reichweite. Natürlich, in so manchem Forum tun sich gedankliche Abgründe auf, die auf Twitter nicht geöffnet werden könnten, aber deren gesellschaftlicher Hebel ist vergleichsweise irrelevant zu einem globalen, sozialen Netzwerk, dessen populärste Accounts über 100 Millionen Menschen mit nur einem Tweet erreichen und damit ins weltpolitische Geschehen eingreifen. Doch auch bei alltäglicheren Konversationen, reicht seine Wirkmacht dazu aus, menschliche Existenzen an ihre individuellen Ränder zu führen. Deshalb wird Twitter in den USA manchmal auch als “Cesspool” (Jauchegrube) bezeichnet, als Ausdruck einer niederträchtigen Konfliktkultur, die ad hominem praktiziert wird, manchmal auch mit dem Ziel, das Gegenüber zur Verzweiflung, Aufgabe und und Selbstlöschung zu bewegen. Der Diskurs wird im Ringen um die Deutungsherrschaft möglichst in affirmativen Netzwerken gepflegt. Dieses Verhalten reicht weit in die Zivilgesellschaft, umfasst links wie rechts, Matriarchat und Patriarchat gleichermaßen. Politische Positionen werden zu plakativen Schlagworten abgekürzt und demagogisch über einzelne Begriffe katalysiert. Wer “neoliberal” oder “Lügenpresse” in einem ohnehin auf 280 Zeichen beschränkten Tweet verbaut, erspart sich jedes weitere Argument. Wer dieses Instrumentarium beherrscht, Maßregelung ausblendet, sich am Zuspruch orientiert und sich von diesem bewirten lässt, kann daran wachsen.
Der US-Präsident Donald Trump selbst, um ein triviales, aber weithin bekanntes Beispiel zu nennen, hat mit dieser Form der Kommunikation nicht nur seine enorme Reichweite weiter vergrößert, sondern maßgeblich dazu beigetragen, das Niveau der politischen Debatte zu senken. Aber er ist bei Gott nicht der einzige, der einen Beitrag dazu leistet. 

Demokratische Verantwortung

Fast jede Botschaft konnte neben der unentgeltlichen Nutzung bisher auch als bezahlte Anzeige über die Plattform verbreitet werden. Ab 22. November will das werbefinanzierte Twitter aber auf jegliche politische Werbung verzichten. Wer sich – wie oben erwähnter Donald Trump – sein Publikum erarbeitet hat, darf aber weiterhin demagogisch und mit vorsätzlichen Lügen agitieren. Twitter-CEO Jack Dorsey begründet diesen Schritt mit demokratischer Verantwortung.
Die Claqueure waren schnell und vielleicht auch ein wenig unreflektiert zur Stelle. Neben Hillary Clinton  lobte unter anderem auch die progressive Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) sein Vorgehen – natürlich mit einem Tweet: “Bezahlte Desinformation nicht zuzulassen, ist eine der grundlegendsten ethischen Entscheidungen, die ein Unternehmen treffen kann.”
 



Aber um welchen Preis? Das Mitleid über die Reduktion politischer Werbung hält sich wahrscheinlich in Grenzen – Ads werden generell als störend empfunden –, aber das ist unerheblich. Wir wissen nicht einmal, wie groß das Problem ist – also welche und wie viele dieser Werbebotschaften den Maßstäben Twitters nicht genügen. Es ist auch gut möglich, dass Twitter mit politischer Werbung ohnehin kaum etwas verdient. Dann wäre der Abschied davon überhaupt leicht verkraftbar und das ganze Manöver weniger philanthropisch als es dargestellt wird.
AOC übersieht in ihrer Begeisterung, dass mit der Nicht-Akzeptanz manipulativer, politischer Werbung auch alle anderen Formen der bezahlten Verbreitung politischer Information betroffen sind. Das ist für viele, die sich an die Regeln halten, ein Nachteil. Ihrer organischen Reichweite mit einem der stärksten Politikaccounts kann die Einstellung politischer Werbung hingegen wenig anhaben. Dieser Wettbewerbsvorteil könnte ihr auch als Opportunismus ausgelegt werden. Sie profitiert und versteht es – ebenso gut wie Trump – mit knappen, akzentuierten Aussagen ihre eigene Popularität zu vergrößern. Wohldosierte Rebellion und Junktimierung ad hominem, bringen einfach mehr Klicks und Sympathie als rein sachlicher Dialog.
Zuletzt stellte Ocasio-Cortez diese Fähigkeit unter Beweis, als sie Mark Zuckerberg bei einem Ausschuss-Hearing nach Ansicht mancher Medien “grillte”. Weniger voreingenommen sah man einen Tech-CEO, der durchaus höflich die Vorgangsweise von Facebook, sich selbst nicht in der Rolle des Zensors zu sehen, verteidigte – und das, obwohl die Plattform jetzt schon ein Heer an menschlichen und maschinellen Nadelöhren beschäftigt, um Inhalte zu screenen (Stichwort: Nippel). Facebook und Twitter implementieren freilich Regeln für die Zulässigkeit von bezahlten und unentgeltlichen und überwachen auch deren Einhaltung. Wir dürfen auch davon ausgehen, dass Zuckerberg keinen Gefallen daran findet, dass User über seine Plattform Lügen verbreiten. Niemand will das. 

Gegen die Intuition

Dass sich AOC sich gegen Lügen und Hass im Netz und damit glaubwürdig für eine besseres Zusammenleben engagiert, während der POTUS maximal an sich selbst denkt, kann man ihr schwer übel nehmen. Doch das rechtfertigt nicht den Einsatz jeglicher Maßnahme.
Im Gegenteil: Genau das ist ein großes Problem in der Anwendung von Meinungsfreiheit. Persönliche Integrität und gesellschaftliche Verantwortung sind eben keine Teilnahmebedingungen für den öffentlichen Diskurs, das Recht der freien Rede und erst recht nicht seiner Einschränkung. Das Wesen der Meinungsfreiheit ist die Duldung, dass jede noch so bornierte Ansicht bis hin zur Unwahrheit auch geäußert werden darf. Naturgemäß nicht, ohne auch vehementen Widerspruch hinnehmen zu müssen. Durch diesen scharfen Diskurs sollten sich moderne, demokratische Gesellschaften auszeichnen. Dieses Recht zu verteidigen, ist eine mühselige Aufgabe, die auf wenig Verständnis stößt.
Was gesagt werden darf, folgt neben engen gesetzlichen, auch weichen, ethischen Grenzen, die in einem gesellschaftlich und auch individuellen Ermessensspielraum liegen. Diese Elastizität fordert Debatte. Doch genau diese ist oft unerwünscht, weil sie unbequem ist und für manche überflüssig wirkt.
Daher wird als Abkürzung oft der Versuch unternommen, den Dialog gleich vollständig zu unterbinden. Wer die “falsche” oder eine Position der “Nicht-Meinung” vertritt, darf zwar prinzipiell, soll aber nicht als Sanktion, sondern präventiv und praktisch nicht am Diskurs teilnehmen. Die Steigerung davon, etwas nicht hören zu wollen, ist, es zu verbieten, damit es andere erst gar nicht hören können. 

Twitter liegt falsch

Was Jack Dorsey vorschlägt, geht in diese Richtung: Ein Teil der bezahlten, werblichen Kommunikation erfolgt manipulativ, deswegen drehen wir den Zirkus gleich ganz ab.
Das ist nicht die beste Lösung, weil sie einen Aspekt des politischen Gebarens ausblendet. Niemand vermisst diese Propaganda, wir leben alle besser ohne diesen Politmüll. Aber das ist kein Argument, um ihn zu verbieten. Und ja, es ist mühsam, etwas zu kritisieren, was man eigentlich in seiner Konsequenz gut heißt – aber das ist auch das Wesen der Meinungsfreiheit.
Das Heraushalten jeglicher politischer Botschaften lässt aber auch die notwendigen Fertigkeiten im sachlichen Diskurs verkümmern. Wer sich auch noch so absurden Argumenten und einem Teil öffentlicher Kommunikation dauerhaft entzieht, wird ihnen sprachlich auch nichts entgegensetzen können. Es mag für Twitter und den Beifall Klatschenden verlockend sein, ein gutes Beispiel für ethisches Handeln abzugeben, aber auch der symbolische Nutzen ist zweifelhaft. Falschinformation als Werbung zu verbieten und organisch gewachsener Demagogie den Vorzug zu geben, wirkt als Doppelstandard moralistisch.
Und schlussendlich hält Dorsey seine eigenen User für nicht ausreichend intelligent, gekennzeichnete Werbebotschaften richtig einzuordnen. Besser wäre, hier Transparenz zu schaffen durch einen Ausweis des Auftraggebers, der Auffindbarkeit seiner Kampagnen, deren Volumen und Targeting. Das erlaubt Usern, die Botschaften selbst einzuordnen. Menschen muss der mündige Umgang mit Medien zumutbar sein. Wer den Glauben daran aufgegeben hat, wird auch mit Bevormundung nichts bewirken.
 
PS:
 
1) Michael Morgenbesser hat mich auf diesen Artikel auf The Intercept aufmerksam gemacht, der eine passende Ergänzung zu meinen eher prinzipiellen Gedanken bietet: A Facebook Ban on Political Ads Would Be a Major Blow to the Left. Just Look at AOC’a Campaign.
2) Und dieser Artikel in der Washington Post verdeutlicht auch, dass ein völliges Verbot von politischer Werbung in Social Media weit überzogen sein dürfte.

2 Comments

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Niko Alm » Newsletter Nr. 24 – Neulich im Kaizid
November 12, 2019 at 10:20

[…] Twitter-CEO Jack Dorsey verlautbarte am 30. Oktober, dass Twitter jegliche, bezahlte politische Werbung einstellen will. Warum ich das für einen vielleicht wirklich gut gemeinte, aber in in der Substanz eher für eine Selbstbeschränkung halte, die Twitter ökonomisch nicht weh tun dürfte und eher der moralischen Selbsterhöhung dient, habe ich in dem Artikel ausgeführt: Twitter ohne bezahlte Politik […]

Niko Alm » Newsletter Nr. 25 – Empfehlungen #1 (Sam Harris, Yasmine Mohammed, Neal Stephenson)
November 21, 2019 at 16:59

[…] „Fall or, Dodge in Hell“ von Neal Stephenson (u. a. „Snowcrash„) erschien schon im Juni, aber da seine Bücher in der Regel nicht viel kürzer sind als tausend Seiten, dauerte es bei mir als Nebenlektüre auch ein paar Monate, um es zu beenden. Letzte Woche habe ich es dann geschafft. Der Roman steht für sich, ist also kein Teil einer Serie, aber manche Besonderheiten, Charaktere, und Namen ziehen sich über die Jahrhunderte quer durch alle Bücher von Stephenson, sodass die Genugtuung Zusammenhänge herstellen zu können, einen Zusatznutzen verleiht – vor allem wenn man zuvor zumindest „Reamde“ gelesen hat. Stephenson konstruiert in „Fall or, Dodge in Hell“ eine Parallelwelt biblischen Ausmaßes, und er bringt das Kunststück fertig, des erste – zumindest mir bekannte – Fantasysetting mit Durchlässigkeit zur Hard Science Fiction zu schaffen. Außerdem legt er dar, wie die Schöpfungsgeschichte tatsächlich zu lesen ist, wie das Jenseits funktioniert und dass wir wahrscheinlich trotzdem nur in einem simulierten Universum leben. Wahrscheinlich nicht das geeignetste Buch, um bei Neal Stephenson einzusteigen, aber ein Anreiz, sich den Weg dahin zu erlesen. […]