zurück: Teil 5 – Sonderrechte für Religion


 
Was unterscheidet Religion von anderen kulturellen Ausprägungen?
Während es sehr leicht ist, die Sonderrechte von Religionen aus der Geschichte zu erklären, gelingt es niemandem, aus der Gegenwart heraus zu argumentieren, warum einer Religion rechtliche Privilegien eingeräumt werden sollten.
Der Beweis für die Behauptung, dass Religion gesellschaftsdienlich ist, wurde bisher nicht erbracht. Die dauerhafte Existenz reicht jedenfalls nicht als Beweis. Sam Harris bringt es nüchtern auf den Punkt: „Die Tatsache, dass ein Glaubenssystem oder eine Tradition lange überlebt hat, bedeutet nicht, dass sie wandlungsfähig ist, sondern nur, dass die Gesellschaft nicht zusammengebrochen ist oder die Anhänger einander umgebracht haben.“[1]
Ein spezielles Gesetz ist keine durch eine historische Leistung erworbene Belohnung. Selbst wenn man einen historischen Verdienst unterstellt, muss ein Gesetz gleichsam gegenwärtigen sowie zukünftigen Anforderungen und sonst allgemeingültigen Rahmenbedingungen einer demokratischen Gesellschaft genügen.
Die Kernfrage ist also: Gibt es Merkmale, die Religion – und nur Religion aber keiner anderen nicht-religiösen Weltanschauung – zu eigen sind, die es rechtfertigen, hier eine Abweichung von allgemeingültigen Gesetzen zu tolerieren?
Was ist hier unter Toleranz zu verstehen? Egal, ob als Mehrheit oder als Minderheit: Ausnahmen von allgemeingültigen Gesetzen zu verlangen oder zu beanspruchen bedeutet, gleiche Rechte aktiv auszuhebeln. Brian Leiter beschreibt die Wandlung des Toleranzbegriffes so: Heute bedeutet Toleranz für sich eine Ausnahmegenehmigung in Anspruch zu nehmen, den Geltungsbereich von Gesetzen, die für alle gleichermaßen gelten gewissermaßen auszusetzen und zu verlangen, dass die Allgemeinheit diese Ausnahme toleriert.[2]
Toleranz ist im Übrigen nur möglich, wenn man sich aktiv damit befasst, welche Inhalte eine Religion vorsieht bzw. was diese Religion inhaltlich einzigartig und unterscheidbar macht. Das entspricht eigentlich einem Zwang, sich mit einer Sache auseinandersetzen zu müssen, obwohl man ihr eigentlich (im positiven Sinn) indifferent gegenüberstehen könnte. Es geht um einen Bereich, bei dem die Grenze der Toleranz dort gesetzt werden muss, wo durch Handlungen der einen die Einschränkung der Freiheit anderer geschieht. Toleranz heißt mitunter auch, die Gewährung einer Ausnahme von allgemeingültigen Gesetzen nicht zu billigen und trotz dieser Missbilligung die spezielle Rechte anzuerkennen.
Zurück zur Frage: Gibt es Merkmale, die Religion – und nur Religion aber keiner anderen nicht-religiösen Weltanschauung – zu eigen sind, die es rechtfertigen, hier eine Abweichung von allgemeingültigen Gesetzen zu tolerieren?
Mit Religion ist keine spezielle Religion gemeint. Spezielle Merkmale einzelner Religionen gibt es wohl. Aber um eine für alle Religionen besondere Behandlung abzuleiten muss es zumindest ein Merkmal geben, das alle Religionen aufweisen und nicht-religiöse Weltanschauungen nicht aufweisen können.
Alleinstellungsmerkmal von Religionen gesucht
Ein Alleinstellungsmerkmal ist sicher die Tatsache, dass Religionen kategorische Anweisungen zur Lebensführung geben, die nicht hinterfragt werden können. Religionen haben sich per definitionem von Logik und Empirie isoliert, denn Religion manifestiert sich ja als Glaube gerade durch den Entzug von Überprüfbarkeit. Den Widerspruch von Wissenschaft und Glaube ignoriert die Menschheit schon seit Jahrhunderten (oder Jahrtausenden) geflissentlich. An dieser Stelle ist auch der Hinweis notwendig, dass glauben in zwei verschiedenen Bedeutungen vorliegt. Wenn man an die Gravitation glaubt, den glaubt man an ein beweisbares, überprüfbares natürliches Phänomen. Wen man an einen Gott glaubt, dann ist man von einer nicht-beweisbaren Überzeugung seiner Existenz getragen. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Wären Götter beweisbar, wären sie natürliche Phänomene. Wenn die wesentlichen Aussagen von Religion wahr sind, dann ist die Wissenschaft so durchwachsen mit übernatürlichen Aberrationen, dass sie nahezu überflüssig wird.
Wenn die wesentlichen Aussagen der Religionen falsch sind, dann haben viele Menschen eine völlig falsche Vorstellung von der Welt und verschwenden sowohl ihre Zeit als auch Aufmerksamkeit an Religionen.[3]
Dieses spezielle Merkmal von Religionen, kategorische, absolute Anweisungen zur Lebensführung zu geben, scheidet somit als Begründung aus, Ausnahmebestimmungen zu tolerieren. Als Bedingung für eine derartige Billigung kommen nur empirisch und logisch nachvollziehbare Argumente in Frage.
Das ist bei Glaubensinhalten wesensimmanent unmöglich.
 


[1] Harris, Sam „The Moral Landscape“ (Free Press New York, 2010). S. 20
[2] Vgl. Leiter, Brian „Why Tolerate Religion?“ (Princeton University Press, 2013). S. 14
[3] Vgl. Harris S. 23
 


weiter: Teil 7 – Gesellschaftliche Wirkung von Religion


 
Inhalt
Teil 1 – Laizität – Der agnostische Staat
Abschnitt I: Religion im Staat

Teil 2 – Religion im Staat – Staatsreligion

Teil 3 – Religion im Staat – Synkretistisches Staatsreligionenmodell

Teil 4 – Religion im Staat – Laizität

Abschnitt II: Lassen sich Sonderrechte für Religion auch im sonst laizistischen Staat begründen?

Teil 5 – Sonderrechte für Religion

Teil 6 – Was unterscheidet Religion von anderen kulturellen Ausprägungen?

Teil 7 – Gesellschaftliche Wirkung von Religion

Teil 8 – Wie soll eine moderne Demokratie das Verhältnis zu Religion und Weltanschauung ausgestalten?